Die Rückkehr des Prangers
In den USA werden Gesetzesbrecher zur öffentlichen Beschimpfung freigegeben - Psychologen warnen

Von FRIEDEMANN DIEDERICHS (Mitteldeutsche Zeitung, 13.10.98)


Washington/MZ. Seit der Supermarkt-Angestellte James Nearhood aus der Nähe von Boston dreimal der örtlichen Polizei auffiel, weil er alkoholisiert am Steuer saß, schmückt die hintere Stoßstange seines Wagens ein großer orangefarbener Aufkleber: "Ich bin alkoholgefährdet, bitte melden Sie unsichere Fahrmanöver der Polizei." Freiwillig hat James Nearhood den Hinweis nicht angebracht - ein Richter hat ihn dazu verurteilt. Eine Neuauflage des mittelaIterlichen Prangers.

In der US-Großstadt Minneapolis organisiert die Polizei regelmäßig eine Aktion mit dem Namen "Stunde der Schande". Was nichts anderes heißt als: Nach Razzien in Bordellen werden Prostituierte und deren Freier in Bussen zum örtlichen Gericht gefahren, wo bereits mehrere hundert ehrbare Bürger warten. Die Festgenommenen müssen aussteigen und sind dann stundenlang zur Beschimpfung freigegeben.

Häufigster Vorwurf an die Ertappten ist nach Auskunft von Polizeichefin Marie Przynski der Satz: "Sie sind der Grund, daß unsere Kinder nicht mehr sicher sind! " Die Bürger liebten diese Veranstaltung, erklärt Przynski, vor allem, weil es stets neue Überraschungen gebe: So wurden bereits der Abteilungsleiter der örtlichen Feuerwehr und ein früherer Staatsanwalt ertappt - und so behandelt, daß sie wenig später in eine andere Stadt umzogen. Von jedem ertappten Bordell-Besucher gibt die Polizei nämlich Namen und Kfz-Kennzeichen an die Zeitungen und an Nachbarschafts-Organisationen weiter.

So werden in vielen US-Bundesstaaten seit Jahren schon Sexualstraftäter behandelt, wenn sie nach verbüßter Strafe nach Hause kommen oder den Wohnort wechseln. In Kansas City lebt sogar ein städtischer Fernsehsender davon, ständig Fotografien und die Vergehen örtlicher Vorbestrafter zu verbreiten, selbst wenn es sich um harmlose Delikte wie den Besuch einer Prostituierten handelt, die meist mit einer Geldstrafe enden. Öffentliche Herabsetzung als Gerichts-Ersatz - weil sich diese Mentalität in den USA immer größerer Beliebtheit erfreut, mag dies auch die Tatsache erklären, daß die "Stunden der Schande" selbst vor dem Präsidenten nicht halt machen, dessen vierstündige Video-Vernehmung dank der von den Republikanern durchgesetzten Ausstrahlung den Bürgern noch gut in Erinnerung ist [Anm.: Präsident Clintons Sex-Skandal mit Monica Lewinsky).
Zudem erwartet man, daß die ertappten Sünder sich ausreichend und möglichst öffentlich schämen - davon leben mittlerweile auch stundenlange Fernsehshows wie die Sendung "Forgive or Forget" (Vergib oder vergiß), in der Mitmenschen ihre tatsächliche oder vermeintliche Schuld eingestehen und gleichzeitig um Vergebung heischen.

 

 

 

 

 

 

In der TV-Show "Forgive or Forget" äußern sich nicht nur Opfer von Straftaten. Auch Täter treten auf - und bittenm um Vergebung.

Da findet sich dann ein tränenreicher Querschnitt durch die Problemwelt der amerikanischen Gesellschaft, an der Margarethe Schreinemakers ihre helle Freude hätte. Etwa eine Frau, die sich heftige Vorwürfe macht, weil ihre Schwester drogensüchtig ist und sie nicht helfen kann. Oder ein Mann, der seine Ehefrau betrogen hat und nun in aller Öffentlichkeit um Abbitte nachsucht.

Während diese Auftritte in der Regel noch freiwillig erfolgen, sehen sich andere Sünder massiver öffentlicher Verfolgung ausgesetzt, um Schamgefühle herbeizuführen - ein Phänomen, das selbst unter angesehenen Juristen wie Dan Kahan, Professor an der Universität von Chicago, Zustimmung findet: "Meistens entsprechen doch die Strafen nicht der Bedeutung der Tat, und sich öffentlich zu schämen, kommt den Staat immer noch preiswerter als eine Gefängniszelle."

Kritiker hingegen sehen aber auch beispielsweise die Gefahr, daß unschuldige Familienangehörige mit in den Sog der Herabwürdigung hineingezogen werden, wenn beispielsweise Schilder vor einem Haus darauf hinweisen, daß hier "der schlimmste Vermieter der Stadt" wohnt.

Denn in zahlreichen amerikanischen Städten müssen Hauseigentümer, die vermietet haben und ihren Reparatur-Pflichten nicht ausreichend nachkommen damit rechnen, von der Zeitung zum "Slumlord des Monats" gewählt zu werden. Da die Stadtverwaltung derartige Pranger-Aktionen mit entsprechenden Beschlüssen unterstützt, um Kosten für Sozialwohnungen zu sparen, können sich Betroffene kaum gegen diese Herabsetzung wehren.

Während sich um Gesetz und Ordnung besorgte Stadtväter ständig Gedanken um neue Vorbeugungs- und Strafmaßnahmen per Pranger machen, kommt aus den Reihen der Psychologen immer stärkere Kritik. "Wenn Menschen sich schämen müssen oder in ihrer Ehre verletzt werden", sagt Professorin June Tangney nach einer Studie unter Betroffenen, "ziehen sie sich meistens stark zurück und sind nicht bereit, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Sie denken vor allem darüber nach, warum man sie so schlecht behandelt - und nicht, warum sie möglicherweise schlecht zu anderen gewesen sind."